Canetti lesen...

Die Locken sind längst ab.



Canetti lesen und sterben lassen

Eins als Notiz, nennen wir es, dich getroffen zu haben

Es gibt bei Elias Canetti
immer wieder die Versuchung,
gegen den Tod anzukämpfen, Wort,
wörtlich den Fehdehandschuh
aufzunehmen, den dieser
gegen die Menschen ausgesprochen hat,
Jeden hätte man retten, Keinen
hätte man sterben lassen dürfen,
sagt er, der in Stockholm die Rede
seines Lebens halten will –
gegen den Tod. Er werde sie nicht halten,
notiert am Tag darauf wieder er.
Akzeptieren zu müssen, was letztlich
jenseits jeder menschlicher
Akzeptabilität liegt, das habe ich
bei Canetti gelernt. Und aber trotzdem –
Da hat er meine liebsten Lebens-
geschichte(n) erzählt, längst
Aufzeichnungen gemacht, Nichts
und Niemanden anheim gegeben.
Und dennoch, ich fand, seine Opposition
gegen den Tod, jenen
unmenschlichen Feind, wie aussichtslos
sie doch ist. Und vielleicht
die einzig angemessene, die
menschliche Haltung.
So, wie man etwa auch kein Rassist ist.
Entweder ist man kein Rassist
oder man ist ein Dummkopf.
Es gibt nur diese beiden Positionen.
Das muss nicht grob und lang
abgewogen werden.
Das ist eine einfache Wahrheit.
Das erfährt man, ganz einfach so,
intuitiv.
Bei mir war es so: In Antalya,
da ließ ich mich noch wider
meine Angst in enge
Flugzeugrümpfe drücken,
in einem dieser grauen kleinen Busse,
die da den öffentlichen Verkehr
frequentieren, da habe ich mir
den Kopf angestoßen als ein
paar Schulmädchen in ihrer schwarz
und weiß gehaltenen Uniform
gerade hinzu gestiegen waren.
Und eine davon – unbändige
Locken – fing unvermittelt an
– zu lachen.
Ein verbindendes,
kein Lachen über,
kein ausschließendes Lachen.
Die gebogenen Linien
eines zu einem Lachen oder
Lächeln geformten Mundes
sind mir seither der beste Beweis
einer möglichen Verbindung
zweier, ja, aller Menschen.

Dann wieder zwei Lippen,
von der Stunde und
unverkrampften Wirken
des Wodkas am anderen
Ende einer Telefonleitung,
die mich bitten, doch
offen zu sein,
all meinen Dreck abzuwerfen,
allen emotionalen Ballast
vergangener Jahre.
Und ich denke:
Mit keiner Silbe
werde ich die frühkindlichen Bemühungen
erwähnen, den Versuch den ungenannten
Erwartungen zu genügen, den Versuch, ein
Kind in einem schleierversilberten Rahmen
und den Erinnerungen einer an Deutung
mächtigen Großmutter zu ersetzen, das
doch längst gestorben ist und überdies
ein Mädchen war, und mit mir allenfalls
hatte die blonden Locken gemein. Engelchen,
nein. Ich werde nichts von dem ersten Schlag-
anfall dieser Frau erzählen, wie ich ihm
als Sieben- oder Achtjähriger hilflos beiwohnte.
Ich werde auch nicht von den dann Folgenden
erzählen. Oder wie ich, Atheist, eine kirchliche
Bestattung für sie mitausrichtete. Ich werde
nichts von dem Neuntklässler erzählen, der
die Absurdität für sich entdeckte und,
später dann, Camus las, als er sich dem Dienst
an der Waffe verwehrte, im Altenheim im Oder-
bruch den Alten beim Sterben zusah, und das nur,
weil er erhoffte, das Mädchen an der Rezeption
wiederzusehen, das Leben in ihren Augen und
nicht aufhörte, wie sie ihm weissagte, ihr Freund
habe sich während des Dienstes verändert.
Ich werde nicht erzählen, wie das erste Mädchen,
in das ich mich verliebte später bei einem Autounfall
starb oder wie ich, der ich in einer verqueren Logik
auch eine Folge des Busunfalls meiner Schwester
bin, dann vier Anläufe brauchte, um das Fahren
zu erlernen, weil Automobile für mich seither
nur Vehikel und fahrende Särge, rollendes Erd-
mobiliar sind, mir jedweder typisch männlicher Fetisch
für diese abgeht, so wie ich auch keinen Fußball mag,
weil es in einem dahinschwindenden Dorf keine
Jungenfußballmannschaften gibt. Ich werde nicht
von dem gigantischen Schaufelrad sprechen, den
Windmühlen meiner Kindheit. Und auch nicht
von seinem besten Trick, wie wir von einem Tag
auf den anderen von einem Braunkohletagebau-
restloch in eine Kiesgrube blickten. Oder vom
hellen Lodern des Feuers vor unserem Haus,
kurz bevor auch wir verschwanden, und Alt-
angesammeltes und Unrat verbrannten.
Ich werde nicht vom Frühling erzählen,
als meine Tante verstarb, auch nicht
vom Herbst als der Krebs meinen Onkel
traf. Keine Geschichten vom Hund, von
Schienen, die die Züge leeren, noch die von
meiner Banknachbarin im Grundkurs Englisch,
die nach dem Abitur nach Indien ging
und sich erhang. Keine Silbe davon.
Weil Tote lassen sich nicht retten.
Aber man kann Menschen retten.
Daher sollte einer sich den Lebenden zuwenden.
Weil da noch was ist, was man beim Canetti-
Lesen lernen kann: wie Kritiker monierten,
gäbe es in der ganzen Lebensgeschichte
keinen Hinweis auf Vezas Arm und
schrieben gleich wieder von Eitelkeit,
Gefallsucht und Laster eines edlen Pfau'
– ich denke hier lernt man, das was
allzu wichtig genannt (und meist dann doch nicht ist),
kommt nur von einer persönlichen Gewichtung.
Der Arm bleibt unerwähnt, weil er einfach
nicht wichtig war.
Auch daher sollte einer sich den Lebenden nicht abwenden.
Auch wenn er vor allem ein wandelnder
Verlustangstkomplex ist,
der nur eines noch viel besser kann,
das weitere Vermeiden von näheren Kontakten.
Was mich betrifft, ich bin schon viel lang
Hüter und Chronist bloßer
Nachrufe gewesen,
von denen, die ich nicht
mehr erreichen kann.
Nicht in der Nacht.
Nicht nach zwei.
Nicht mit einer halben Flasche Wodka,
auf einem Wannenrand.
Lachend.

 
 
 
 

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