Lauter lichte Blicke [2012/08/II]


2012/08/04
Wie hat er das gemacht? Vater klaubt im Vorübergehen zwei Früchte vom Strauch. Ein Wildwuchs, nur ein, zwei Triebe, weshalb er auch nicht abgeerntet wird. Anders als die Apfelbäume, eng stehend, von niedrigem Wuchs, ganz getrimmt auf Ertrag, die nun bereits übervoll im hinteren Teil des Gartens hängen. Die Äste drohend jederzeit zu bersten. Schwarze Beeren, roter Saft. Ich blinzele durch die Sonne und versuche, mir dieses Bild einzuprägen, bevor ich den Stuhl wieder aus der Schneise des hellen Lichts ziehe. Ich habe keine Ahnung, wie er das geschafft hat. So alt zu werden. Und nicht den Verstand zu verlieren. Den Trick muss er mir noch verraten, denke ich, bevor ich mich wieder dem Buch zuwende, für das ich mir heute Zeit genommen habe. Zeit für mich. Für fachfremde Literatur. Für ein verbranntes Gesicht in nur fünf Minuten von ein bisschen direkter Sonneneinstrahlung. Ist es wert. Denn plötzlich lerne ich ein neues Wort aus einer da aufgezeichneten Kindheit, das ähnlich klingt wie der Heimat- und Vaterlandskult, der mir so fremd geblieben ist, und das mir aber doch in ein unbehaustes Leben wie das meine zu passen scheint: Lippen formen ein Wort. Geborgenheit. Ja, das will ich auch. Das ist ein gutes Wort. Hingegen nicht, will ich dieses Wochenende mit auf den Friedhof. Meiner Mutter ein weiteres Mal dabei zusehen, wie sie D.s und Omas Gräber ein weiteres Mal beackert. Ich mag es sonst dort, obwohl ich meist nur sinnlos und im Weg stehe, ohne wirkliche Rührung oder Begeisterung. Und ihr bloß dabei zusehe, wie sie das Kommando hat und sich in dieses nicht minder absurde Tun vertieft. Sie ist dann zumindest mehr bei sich, man kann ein paar nicht beiläufige Worte wechseln und weiß zumindest ein Mal, dass sie sich jetzt nicht schon wieder nervös fragt, was wieder zu tun sei, was sie noch machen muss, was sie dann wieder unüberlegt nur gut gemeint hat oder ob sie bereits ihrer Form der Entspannung, einer Zigarette begleitet von stetem, stummem Grübeln, bereits wieder hinterher hechelt. Letztes Wochenende habe ich mir bei dieser Gelegenheit G.s Grab angesehen, den Stein, den seine noch junge Witwe für ihn hat aufstellen lassen. D. h., falls man uns noch »jung« nennen kann und obwohl sie, glaube ich mich zu erinnern, ein, zwei Jahre älter als er war. Der Stein war kitschig. Aber das wusste ich schon aus Beschreibungen. Glatter schwarzer Granit und drei Fotos, auf denen ich ihn auch noch erkenne: Beim Sport, im Verein, und unten, das Abwegigste und Makaberste in einer Motorradmontur. Andererseits: Ich habe ja auch keine Ahnung, wie man mit solch einem Scheißdreck fertig werden soll, betrachte ich doch an jedem zweiten Wochenende das Grab eines Mädchens, das meine Schwester gewesen sein soll, ohne etwas Sinnvolles tun zu können.


2012/08/06
Am Wochenende ist hier im Ort ein Laster Getreide umgekippt. Eigentlich eine fiktive Nonsens-Schlagzeile, die mein Vater immer so verwendet, wenn im Lokalteil der Zeitung ein banaler Vorgang zu einer Meldung gereicht hat, die dann die Seite eben füllt. Dieses Mal ist es aber wirklich passiert. Als ich zum Bahnhof gehe, kann ich die Havariestelle in der Kurve noch kurz in Augenschein nehmen. Gleich hinter Brücke muss der Transporter die Schutzgeländer am Fußwegrand mitgenommen haben, als es ihn zu weit aus der Kurve trieb und er schließlich kippte. Im kleinen Flussbett sind noch die Reste der Ladung zu sehen, dass diese aufgenommen hat wie ein Trichter. Offenbar hat es nicht gelohnt, auch diese zu sichern: So sauber scheint das Wasser wohl dann doch noch nicht wieder. Dafür kann ich mich an dem absurden Anblick kurz erfreuen. Fast an jedem Korn, das ich in der Kürze der Zeit mustern kann, empfinde ich Genugtuung. Seit ich das Antidepressivum abgesetzt habe, fällt es mir wieder merklich leichter, mich zu fokussieren, ich habe wieder ein Auge für Details. Wie für die Holunderbeeren, die in einem Garten am Anfang meines Wegs noch nicht ausgereift sind, während die des Strauchs in einem verwilderten Schrebergarten gleich gegenüber der Bahnsteige schon in einem sattem Schwarz glänzen werden. Es ist ein bisschen wieder so, wie als ich meine erste Brille bekam. Und wie mit jeder mit angepasster Sehschärfe danach.


2012/08/07
Ich weiß noch nicht, ob ich es gut finde, jetzt wieder zu träumen. Oder mich an diese Träume zu erinnern. Aber der war verstörend. Obwohl kein Kind mehr, werde ich in eine neue Klasse eingeführt, an der dann wieder der ganze Rest des langen Lebens hängen soll. Und Mutter ist auch wieder da, obwohl sie doch schon lange nicht mehr als Sekretärin arbeitet, spricht mir gut zu, hat aber vor allem nur wieder im Kopf, was die Leute denken könnten. Ich mag mir das gar nicht erst vorstellen. Auch wenn da viele Gesichter sind, die ich in den vergangenen Jahren angesammelt haben muss. E bleibt ein Gefühl der Fremde in merkwürdig Vertrautem. Und es dauert auch nicht lang, und ich verfalle in alte Muster: Ich habe schier keine Lust, nomen est omen, wieder der Neue in der Gemeinde zu sein, ich schirme mich ab, mache zu.


2012/08/08
Apropos alte Klasse: Ich treffe F. an der Netto-Kasse. Er steht in der Schlange direkt hinter mir. Ich bekomme es erst mit, als ich auch schon an der Reihe bin. Nach dem Bezahlen warte ich dann, und er scheint auch erfreut zu sein. Wir reden kurz, seine Firma, er hat sich wirklich gemacht, wie lang mein Studium noch dauert, wann ich dann den P-Schein mache und für ihn fahr‘. Selten gelacht. Sehr lange nicht mehr mit ihm gelacht. Er lädt mich noch auf ein Bier ein, und ich nehme mir vor, dies auch in näherer Zukunft wahrzunehmen. Auch, weil er vermutlich zu den wenigen Menschen gehört, bei denen ich weit weniger Befangenheit verspüre, rede ich mit ihnen. Auch nach so langer Zeit. Ich war der, der ihn damals aus dem Sekretariat, mit meiner Mutter, mit in die fünfte Klasse geschleppt hat. Die erste auf dem Weg zum Abitur nach der Wende.



2012/08/09
Kino mit S. Das Aufregendste am ganzen Film war dann eigentlich unser Telefonat, als wir uns am Mittwoch für diesen Tag verabredet haben. Plötzlich klang es, als hätte sich eine Untiefe aufgetan, und habe ihn unversehens eingesogen, tief unter Wasser. Aber eigentlich höre ich ihn nur vom Fahrrad fallen, als eine Stoßstange seinen Lauf unsanft und abrupt stoppt. Als er sich am darauffolgenden Tag verspätet, ist schon entschieden, dass wir nun doch nicht zusammen kochen, weil wir noch die Karten besorgen müssen und ein Dönerstand da direkt nebenan ist. Ich beobachte amüsiert, wie er mit dem Betreiber flachst. Und etwas erschüttert als sich ein Kind nur zwei Stück Fladenbrot mit Sauce für ein paar Cent holt. Ich hoffe, das war jetzt nicht das Abendbrot. Aber ich habe heute ja auch noch nichts gegessen. Die beiden, S. und der Betreiber, kennen sich näher, da S.s alte Wohnung um die Ecke liegt. Daher bekommt er auch eine extra Portion Sauce auf seine schawerma, ein Stück gefülltes dünnes Fladenbrot, die er sich nicht gewünscht hat, aber bekommt, weil er so frech war, sie für gleich und unterwegs zu bestellen. Und es sich nicht nehmen lässt, noch im Laden abzubeißen. Später erklärt er mir, dass dieses dünne Brot nicht ganz so mächtig sei wie das übliche beim Döner, und: er war schon die halbe Woche aus zum Essen und hat seine Kenntnisse die Fastenregeln während des Ramadans betreffend merklich in solchen Gesprächen erweitert. Kleiner sadistischer Mistkerl. Ich habe noch immer keinen richtigen Hunger, neben den Getränken für später kaufe ich noch zwei Laugenbrezeln, rühre sie aber im Saal dann nicht an. Davor haben wir aber noch etwas Zeit: neben einer Instruktion in ein wirklich faszinierendes Computerspiel, wo man, wenn ich es recht verstanden habe, die meiste Zeit nur rumsitzt im virtuellen Gelände und dieses beobachtet, um zu überleben, sehen wir uns noch das 200-Meter-Finale der Männer an. Bolt, zum zweiten, diesmal macht er gar Liegestütze. Danach beweist 3D-Brillen-Kino wieder, dass es aus einem schlechten Film keinen besseren zu machen vermag, und Ridley Scott demontiert sich selbst. Prometheus ist eine blutleere Pilgerfahrt ins Nichts, und wird wohl zu Recht jetzt nicht als Prequel zu Alien beworben. Statt einem Kammerspiel mit wirklichen Protagonisten, die sich gegen eine fremde Intelligenz erwehren müssen, gibt es ein wüstes, ausuferndes Setting mit einem wüsten, arg vorhersehbaren Plot und, das ist am enttäuschendsten, Außerirdische, die trotz CGI-Rechenkraftaufwand einfach nur aussehen wie farblose große Menschen. Einziger Lichtblick: Michael Fassbender. Aber das will schon was heißen, wenn die einzige, an sich emotionslose, künstliche Lebensform an Bord es rausreißen soll. Spätestens beim „Im Jahr des Herren“ im Abspann möchte ich dann doch vorzeitig gehen.

 
 
 
 

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