Nachträge des Kapitäns




Illusion / Illumination (Ich hatte da einen Traum.)

Freie Wahlen, allerorts,
bis hin nach Villa San Cristóbal
de La Habana, Cuba:

Ein Mann liest in der Tageszeitung von
einem Hirn erforschendem Experiment:

Probanten, denen gesagt Forscher
dies hätten, erhoben dort einen Arm.
Soweit nichts Ungewöhnliches.
Doch bevor diese angeben konnten,
bewusst eine Entscheidung getroffen zu haben,
ebendies zu tun, so sagen die Forscher,
sei im Hirn der Probanten bereits, und
dies sei der Punkt, bereits zuvor
sei einige Nanomikromillisekunden bevor
ein Impuls messbar gewesen.

Die Hirn erforschenden Forscher schließen nun
ganz folgerichtig, dass die Probanten,
denen man gesagt hätte, genau dies zu tun,
seien in ihrer Entscheidung nicht frei gewesen
und damit die Freiheit des menschlichen Willens
gänzlich eine das Handeln regulierende Illusion.

Der Mann, der das in La Habana, Cuba, liest, stutzt.
Und lacht laut auf.

Er nimmt einen Revolver
und verteilt wie zum Trotz und, um das Gegenteil
dieser anmaßenden Behauptung zu beweisen,
sein arg gemartertes Hirn an der Zimmerwand.

Ein hinzugerufener Arzt aber,
weiß es besser: er sagt, der Zwang
des Immer-zuletzt-Recht-haben-Wollens
habe ihn, diesen Mann, dazu getrieben.


Ein anderer Mann in La Habana, Cuba,
liest an ebenjenem Tag in der Tageszeitung ebendasselbe.
Er stutzt. Zuckt mit den Schultern. Und beschließt,
ob nun frei oder nicht, das Beste aus der ihm zur Verfügung
stehenden Zeit zu machen und stattet seiner Geliebten
einen Besuch in uneindeutiger Absicht ab.

Er wird von ihrem Mann, einem Heim kommenden Arzt, der beide
in eindeutiger Stellung vorfindet, erschossen.

Nicht ohne Genugtuung
betrachtet dieser dann den leblosen Leib seines Rivalen.
Das unwiderlegbare Indiz der Untreue seiner Frau.

Diese beteuert auf Knien, flehend, es tue ihr leid, aber
sie sei nicht Herr ihrer Sinne gewesen.
Sie sei ihm, diesem anderen Mann, auf Gedeih
und Verderb verfallen, ja, ausgeliefert gewesen,
konnte gar nichts dagegen tun.

Der Arzt lächelt unbillig. Streichelt ihr das untreu
gewordene Köpfchen. Legt an, und erschießt auch sie.

Eine Nebelwolke aus Blut, Knochenpartikeln und Gehirnmasse-
teilchen liegt noch in der abgestandenen Luft - es riecht
nach Lust, Schweiß, Verrat und verletzter Eitelkeit - als
der Gerichtsmediziner schließlich eintrifft.

Dieser öffnet kurzerhand ein Fenster wider Bluthirnknochen-
hochnebelschwaden und Lustverratseitelkeitsdunst,
und ist einigermaßen überrascht, seinen Kollegen und Freund,
einen bis dahin untadeligen Menschen, kopflos wimmernd
so an einem Tatort vorzufinden.

Doch im Gegensatz zu diesem, übersieht er die Lage kühl und
deutet dessen fortgesetztes Gestammel »...nicht Herr ihrer
Sinne! Nicht Herr ihrer Sinne gewesen!«, welches ihm Schmerz
und dämmernde geistige Umnachtung abringen, folgerichtig
mit dem ihm zur Verfügung stehenden Hintergrundwissen falsch:

Zwar lässt sich der Tathergang in der sich anschließenden
Verhandlung des Geschehens vor Gericht nicht mehr eineindeutig
rekonstruieren, insbesondere, wie der Täter von einem Tatort,
nahe der Wohnung des geladenen Zeugen, auf sein zweites Opfer,
die Frau des Zeugen, der zufällig als Gerichtsmediziner
das ebendort zuerst zu Tode gekommene Opfer untersuchte und
daher später erst dazugekommen sei, aufmerksam wurde;
noch wie diese, nachdem jener sich an ihr vergangen hatte,
schließlich in Besitz der Tatwaffe gekommen sei.

Jedoch stehe nach Meinung des Hohen Gerichts und Sichtung
aller Beweise unzweifelhaft fest, dass diese, erstens,
diesen Mann, der sie gerade noch eben geschändet, nachdem
sie ihm irgendwie die Waffe abgenommen hatte, erst
diesen gestellt, und dann, wie zu vermuten ist, aus Scham,
Schock oder im Affekt diese gegen sich selbst gerichtet
habe, und das, noch bevor ihr Mann ihr zu Hilfe eilen konnte.

Daher verstehe das hohe Gericht auch nur zu gut,
das weitläufige Schweigen ebendesselben, den Schmerz,
den Schock und die Scham, nicht habe eingreifen
zu können, auch wenn dies zur Klärung der Sachverhalte
nicht eben beigetragen habe.

Dennoch möchte das Hohe Gericht sein Bestürzen darüber
zum Ausdruck bringen, dass es gerade ihn, einen Mann
von untadeligem Ruf und überdies in seiner Tätigkeit
als Arzt auch wissenschaftlich beflissenen und somit
auch überaus nützlich für die Gesellschaft, dass gerade
ihn ein solcher Schlag mit all dieser Härte getroffen habe.

Der Mann schweigt,
aber sein Blick
lacht.



Andernorts, weit im Osten von Villa San Cristóbal
de La Habana, Cuba, sitze ich noch hoch über den Dächern der Stadt.
Was heißt, eigentlich sitze ich im höchstgelegenen Stock, den
meine Höhenangst und mein Kontostand es mir in einem der
privilegiertesten Länder der sogenannten freien westlichen Welt
gestatten. Im Fernsehen sehe ich die Kanzlerin des Landes, in dem
ich durch Zufall, das heißt, in das hineingeboren ich wurde und
in dem ich noch immer lebe. Die erklärt, was noch keiner weiß,
ja, wissen kann: Die Krise, so sagt sie, halte noch mindestens
zehn weitere Jahre an. Ich stutze, dann pruste ich los. Räume
schon einmal einen Platz für die Nobelpreisurkunde frei. Den ich
im Übrigen für Physik erhalten werde. Indem ich das und nicht
zuletzt den Wetterbericht bis in das Jahr 2084 voraussagen werde.
Aus Tierdärmen. Denn nichts anderes betreibt diese Physikerin
im Berufspolitiker(un)gewand: eine hilflos durchschaubare Geste,
an der alles nach Machterhalt schreit. Weil die, die noch wählen,
warum auch immer ihre Partei noch immer mit Kompetenz in
Wirtschaftsfragen assoziieren. Weil zuerst immer noch Tofuleisch
und Fertigfressen, ein Dach über'n Kopf, ein warmer Ort für die
Nacht, und damit ein Arbeitsplatz kommt, für den wir uns erpressen
und willig zu Sklaven machen lassen. Erst dann kommt und vielleicht
die Moral. Etwas hat sich gewandelt, auch wenn keiner mehr an
einen Wandel zu glauben scheint. Den Fortschrittsglauben, der
selbst in die einsetzende Industrialisierung noch Hoffnung für die
niederen Stände und Klassen setzen konnte, hat, wenn nicht der
Erste, dann der Zweite Weltkrieg, die das industrielle Abschlachten
von Menschen in den Schützengräben und Gaskammern erfanden,
nachhaltig zerschmettert. Ich selbst habe mit der Wiedervereinigung
beider deutscher Staaten noch einmal so etwas wie Aufbruchsstimmung
in diesem Land gespürt, von der allerdings im Laufe der Jahre nichts
als ein Klima der Stagnation geblieben ist. Abgesehen von den Null-
kommanichtebenviel Prozent Wirtschaftswachstum, das Wohlstand,
Glück und Auskommen aller garantieren soll. Und dies lange schon
nicht mehr tut.

Dabei bräuchte es nur einen Moment.

Des Innehaltens. Und Sichfragens. Und wenn dies nur wir tun würden,
die wir in der sogenannten freien westlichen Welt nun einmal
durch Zufall an den privilegierten Hebeln sitzen. Fragten wir uns
nur ein Mal: Wie wollen wir leben? (Und dass ich das so für mich kann,
widerlegt vielleicht nicht die Zweifel, die die Experimente das
Gehirn erforschender Forscher in uns streuen. Aber es belegt doch
auch etwas: Die zwar begrenzte, die zwar an meine Situiertheit als
Mensch gebundene Freiheit, was heißt, eine Freiheit, die zwar situativ
gebunden nichtsdestotrotz eine ist und auch bleibt.)
Fragten wir uns das. Nur ein Mal ein: Dieses Wie wollen wir leben? Ein
Fingerschnipp. Bei all dem Belanglosem, was man so denkt: (Bin ich
attraktiv? Gewinnt Deutschland die nächste Fußballweltmeisterschaft?
Muss ich noch Brot kaufen? Und Tofuwürste? Wann lässt sie mich nur
mal wieder ran? Ey, was glotzt der mich'nun so an?) In der Bahn, in der
Tram oder, wie ich, auch im dritten Stock einer Genossenschaftswohnung.

Gäbe es Banken-, gäbe es noch Finanzmarktkrisen? Broker, die gegen Staaten
wetten. Oder auf Nahrung, auf Essen? Gäbe es Spekulationsblasen, in
denen dieselben Anfang-Zwanzig-Recken gegen Arbeitnehmerleistendewerte wetten,
weil sie de facto selber keine Arbeit, keine erarbeiteten Werte gegenzeichnen
können? Gäbe es das, gäbe es das?

Es gäbe sie nicht, ihr Träumer. Handelt. Endlich.




Spiel’s nicht noch einmal, Christopher K.!

Aus der Verwirrung oder
wie man's nimmt,
der Verstörung, der allzu kindlichen
Geworfenheit
und Kinder bleiben wir
selbst als Mann, der
nicht sterben kann, selbst als Fosca
- weil jedermann ist ein Fosca,
solange wir leben, leben wir als Fosca,
wir leben dahin und erleben nur
den Tod der Anderen - und bleiben
dann kindlich staunend und zürnend zurück
in Verwirrung, verstört
und bleiben wie Schildkröten-
menschen, die auch ihren Panzer
haben, weil sie schon zu viel gesehen
und man die Blicke
und bleichtrauertrüben Augen
und die weisen faltigen Hälse
darunter verkriechen kann

und ist das nicht die eigentlich
größte Kränkung des Menschen:
egal, wie viel du dich abstrampelst,
deine Stirnplatte gen Mauern schlägst
egal, wie sehr du liebst, die Intensität,
oder die Leidenschaft, mit der du hasst -
sie, die anderen Menschen, sie verlassen
dich ja immerfort doch,
ob sie wollen
oder nicht.

Solange du lebst, lebt auch dieses Spiel fort.

Ist dies der Grund, warum die Alten die Götter erfanden?
Etwas Bestehendes, das ein Jenseits verheißt
der Dinge, wie sie sind und waren?
Und ist es nicht diese trugschließende Sehnsucht,
die uns dann wieder gegen diese Hoheiten
Sturm anlaufen ließ? Weil wir ganz verständlich und konkret
doch hier und jetzt glücklich sein wollten?
Für die alten Griechen endete die ihnen bekannte Welt
im Westen noch dort, wo sich auf den Schultern des Atlas
das Himmelsgewölbe auftürmte, das Firmament oder
die von der Erde getrennte Sphäre des Himmels.
Ebenjener Sohn aus dem Titanengeschlecht, nach dem
noch heute das gleichnamige Gebirge inmitten des Maghreb
und das ‚Meer des Atlas‘, der Atlantische Ozean, benannt
sind. Nicht unweit der Stelle, wo dieser den Mythen
nach auf den Sohn des Zeus traf, welcher kurzzeitig
mit ihm seinen Platz tauschte, weshalb diese Stelle, d.i.
die Straße von Gibraltar, auch ‚die Säulen des Herakles‘
heißt, nicht unweit von dieser geschah es,
dass am  3. August 1492 die Karacke Santa Maria
und die Karavellen Niña und Pinta von Palos aus
Segel setzten zu neuen Ufern, um von der Costa
de la Luz aus den Westweg, freilich nach Indien,
zu entdecken.

Der Rest der Geschichte ist nur allzu
hinlänglich bekannt und darum schnell erzählt:
Die dort unverhofft vorgefundenen Westinder
trauten ihren Augen kaum und standen staunend
wie Kinder, als gastfreundschaftlich und mehr als
zuvorkommend man sie in ihrem Land willkommen hieß.
In einer humanitären Geste gewährte ihnen man
Reservate als Wohnraum, damit sie nicht länger
ihr Nomadenleben fristen mussten, erlaubte ihnen
zudem den Bau von Casinos, weil diese doch zu sehr
dem Genuss von Feuerwasser frönten, das ja
irgend auch bezahlt sein wollte.

Und? Schließt sich da nicht der Kreis (auch weil
das dem Kreisen eben so zueigen ist?) Denn,
was ist denn die größte Ernüchterung des Trinkers?
Ist es nicht die, ist es nicht der Moment:
du stehst zum ersten Mal am Meer, nach dem
du dich stets, warum auch immer, gesehnt hast,
ob nun an den Gestaden im Osten oder dem
Westen des 'Meers des Atlas', - gesehnt,
so sehr, du hast warmen weichen Sand zwischen
den Zehen, und da erkennst du auf einmal,

dass auch dieses deinen Durst nicht löschen wird.

Und das ist dann der Moment, wo du aufbrichst:
Nach Westindien, Madagaskar oder den Südpol
wie Kapitän Robert F. Scott.



zugabe: ein faun namens peter (die ballade vom traurigen pan)

gestatten,
mein name ist pan,
wie geht es dir?
was geht dich an? ach,
ich trinke, weil ich
es nicht will aber
kann weil ich sonst nicht
schlafen kann

nach äonen, dem zeitalter
der alten kommt das neue
alte überkommene, die voll-,
die verkommenheit, die ganz

alte verlogenheit und heuchelei
tritt wieder zu tage, abglanz
und glorie, gegen solche
menschengepflogenheit, ziegen-
verstand und mickrige einfalt

helfen noch immer meck, meck,
faunenkeck die bocksfüße zu stemmen
und entgegenzustrecken mein haupt
das hornbewehrt und lorbeerbekränzt

gerade doch trefflich mir hierzu taugt
im übrigen aber halte ich es auch das
sei angemerkt hier für gar
angebracht und gar nicht anmaßend

geliebt werden zu wollen, auch wenn
dies einfordern man nicht kann oder
zumindest zu sein zu gelten anerkannt
selbst so wie ich als ein - nie mann.

aber ich frage dich, wie rennt einer
da sonst gegen mauern des seins, das
system und den stumpfsinn, ach, den
stumpfsinn, der darin eingeschlossenen an?

nach den satyren, kommen
neue satyrn. und ich,
ich bin der pan, genannt peter,
und ich trinke nicht
weil ich es mag aber
noch immer nicht schlafen kann
.
.

 
 
 
 

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