»We’ll set sail again...«


 













Diario de a bordo, Bordtagebuch, der erste Tag

Der Weise werde, so heißt es zumindest in einer Spruchsammlung, die die Schüler in die epikureischen Lehren einführen sollte und welche im 19. Jahrhundert erst in einer Handschrift des Vatikan wiederentdeckt wurde –, der Weise werde gerne Schauspiele sehen und sich so gut wie nur irgend jemand an dionysischen Vorstellungen und musikalischen Genüssen erfreuen; musiktheoretischen Diskussionen und gelehrten Untersuchungen aber werde er nicht einmal beim Weine eine Stelle einräumen.1

»Das reine Erkennen, mag es als Element der Bildung oder als Ziel des ganzen Lebens gelten, ist nicht alles. Es wird umso weniger alles, je mehr es sich in reine Fachwissenschaft verwandelt.«2 Da melde sich denn, so Olof Gigon – hier in einem kurzen historischen Abriss seiner Einleitung in die epikureische Philosophie –, was er den »Anspruch« des Menschen nennt. Jener selbst, Epikur, der 342 v. Chr. auf der Insel Samos geboren, 271 v. Chr. in Athen verstarb und dessen Schule – eine unter vielen nach dem Tode des Sokrates‘ – später nach seinem Garten in jener antiken Polis benannt wurde (‚képos‘), formuliert eben diesen Anspruch3 wie folgt:

»Fliehe, du Argloser, jeglicher Bildung im schnellsten Nachen.«4 Oder, wie es in der Übertragung Gigons heißt, »[…] mit gespannten Segeln.«5

»We’ll set sail again...« Im Rekurs auf diese »unfanatische Klugheit« (Olof Gigon), jene altpagane Besonnenheit oder auch Genügsamkeit, wie sie auch Epikur auszeichnete, haben wir Segel gesetzt... für einen Augenblick ausgeblendet seien Alltag, der Zugriff bundesdeutscher Behörden auf unsere Daten und unser Leben, die GEZ,

George Walker Bush, der nun sein Bild in den Geschichtsbüchern zu revidieren sucht, Barack Obama, der diesen zu revidieren hat, der Guantánamo Bay schließen und den Irak – »so this is the grande finale« – ein zweites Mal befreien und damit endgültig ins Chaos stürzen wird, oder auch der Papst, der, Stichwort HIV-Prävention, gerade eine Komplettrevision einer weltlichen Öffnung seiner Kirche anzustreben scheint und alte Verdikte wiederentflammt;

außer Acht für einen Moment aber auch die derzeit alles betreffende Rezession, die einen in einer panökonomisierten Gesellschaft natürlich nicht viel härter treffen könnte, nicht, weil sie kurzfristig die geschönten Arbeitslosenzahlen in die Höhe schießen oder hier und da staatlich subventionierte Kurzarbeit beantragen lässt, sondern weil sie diese letzte Utopie dorthin verwiesen hat, wohin sie gehört, weil sie diese als Illusion, deren Bigotterie und Zynismus entlarvt hat, kurzum, weil sie die große Blase vom sich und alles regelnden Markt, den man nur sich selbst überlassen muss, hat platzen lassen.

Vergessen für den Moment sei auch, was man unter dieser Perspektive »das (überaus) individuelle Streben nach Glück« nennen soll – wir wissen zwar auch nicht, worum genau es sich bei diesem »Glück« handeln soll; einerseits sind uns ziemlich sicher, »It‘s not that complicated«, liebe Facebook-, MySpace- oder sonstige Web 2.0-Adepten; auch wenn wir uns, das geben wir zu, andererseits mit dem Bild eines gelingenden oder gelungenen Lebens, wie es uns Vorabendserien mit ihren allzu vorhersehbaren Plots vermitteln wollen, nicht zufrieden geben können. Wenn dies »das gute Leben« sein soll, auf das man uns konditionieren will, dann verbleiben wir doch lieber hier und jetzt. In der uns eigenen Katerstimmung obzwar, aber bei weit bekömmlicheren Kaffeesurrogaten und jenem bloßen Anschein von Leben, von dem wir aber wissen, dass es das unsere ist und – in lichten Momenten – nichts Anderes: Nicht die Okkupation dessen durch universitäre Verpflichtungen, mies bezahlte Aushilfsjobs oder eine Zukunft, die noch ungewiss ist/ bislang nicht statt fand.

Was nun nicht heißt, dass wir hier in kruden Fingerübungen einem ungehaltenen Eskapismus das Wort reden wollen, der andernorts bereits zur Genüge Fuß gefasst hat. »We‘re not those kids sitting on the couch.« Das heißt auch nicht, dass die Tyrannen und die Tyrannei der Gegenwart hier nicht zur Sprache kommen oder besser, unseren Widerspruch provozieren sollen, wo uns dies als angemessen erscheint.

Das heißt nur, dass es sich bei The city’s hard, the city’s fair um einen Ort, im Sinne einer Heterotopie,6 handeln soll, d. h., einen Raum, der vollkommen anders sei als die übrigen Orte, (mythische oder reale) Negation des Raumes, in dem wir leben, Gegenraum oder lokalisierte Utopie, realer Ort jenseits aller Orte – im Sinne eben jenes »ganz anderen Ortes« wie Michel Foucault diesen in Les hétérotopies eingeführt hat. Von diesem stammt, obwohl nicht unbedingt einer unserer Helden, im Übrigen immer noch die treffendste Charakterisierung dessen, was auch uns ein Anliegen war, alte Bestrebungen wieder aufzunehmen –

»[…] Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und Zögern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht. Philosophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden als man ist.« (Michel Foucault, Der maskierte Philosoph, 1980.)7

Insofern sei The city’s hard, the city’s fair ein anderer Ort, ein Ort, um anders denken zu können, Freiraum des Denkens, ein Ausloten, Brechen, vielleicht sogar Verändern der Gegenwart; aber es sei auch ein Ort des Sich-Ausprobierens, der Fingerübungen (ja, auch diese), kruder Randnotizen und der Schnipsel, wie sie das Netz für uns bereits vor und noch immer abseits des 2.0-Ge(t)witters aus- und interessant mach(t)en.
Wir werden gegebenenfalls auch auf diese »anderen« Seiten des Internets verweisen, auch wenn es die Absurdität des (deutschen) Rechts notwendig macht, sich ausdrücklich von diesen Verweisen zu distanzieren. Aber dazu siehe andernorts.

Was diese Seite allein betrifft: The city’s hard, the city’s fair vereint fürderhin franzine und unwirsch magazine, die - das behalten wir uns vor - dann aber allenfalls noch als pdf-Sammeldateien Neuauflagen erleben werden. Vereinheitlicht ist damit nur der Name, nicht der Blick, der auf verschiedene Facetten von Wirklichkeit geworfen werden soll –
Während sich Themenspektrum und hehre Ambitionen des einen »Magazins für Philosophie, politischen Diskurs, Musik, Literatur und Film« nichts Geringerem näherten als, was sich »kurz, […]« unter »(populäre) Kultur, unzeitgemäßes Denken und schier besseres Wetter« ablegen ließ, fühlte sich das andere (»[…] not another fanzine«), allein der Musik verpflichtet. Vielleicht wieder mit deutlicherem Fokus auf Letztere8 werden wir uns auch hier dem widmen, was grob gesprochen, noch immer regen Anteil nimmt an dem, was man Gegen-, Alternativ- oder auch Populärkultur genannt hat. Auch in diesem Sinne –


»Fliehe, du Argloser, ... mit gespannten Segeln«. Wir haben Segel gesetzt.
Wohin?
Nun, das wissen wir nicht.



Schladitzer Bucht, Herbst 2010 by Manuel Niemann



















Literatur und Diskographie:


Epikur, Von der Überwindung der Furcht, Eingeleitet und übertragen von Olof Gigon, München 21985. [= Unveränderter Nachdruck der in der »Bibliothek der Alten Welt« im Artemis Verlag erschienenen Ausgabe, Zürich 31983.]
Foucault, Michel, Die Heterotopien (Les hétérotopies). Der utopische Körper (Le corps utopique). Zwei Radiovorträge, Zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt am Main 2005.
Roos, Theo, Neue Philosophische Vitamine, Köln 2007.
Roos, Theo, Philosophische Vitamine, Köln 2005.
Schneider, Ulrich Johannes, Michel Foucault, Darmstadt 2004.

The Moldy Peaches – s/ t (2001): Steak for Chicken
The Libertines – Up the Bracket (2002)
The Coral – s/ t (2002); beide komplett
Glasvegas – s/ t (2008): It’s My Own Cheating Heart That Makes Me Cry

 
 
 
 

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thecityishardthecityisfair hat gesagt…

1 vgl. Epikur 1985, S. 116

2 ebd., S. 8f

3 In einem Brief an seinen Schüler Pythokles.

4 wird zitiert nach: Roos 2005, S. 123

5 vgl. Epikur 1985, S. 119

6 von griech. heteros, ‚verschiedenen‘ oder ‚anders‘, und topos, ‚Ort‘ oder ‚Stelle‘; im Gegensatz zu Dingen, die in der Tat keinen Ort haben, den Utopien (von griech. ou ‚nicht‘, siehe oben)

7 wird zitiert nach Schneider 2004, S. 208

8 »Wozu«, fragt Émile Cioran in seinen Syllogismen der Bitterkeit, »[…] soll man Plato lesen, wenn ein Saxofon uns ebensogut eine andere Welt ahnen lassen kann?« (wird zitiert nach: Roos 2007, S. 160)

8. April 2009 um 00:31

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