Sonntag, 12. August 2012
Label:
Diario de a bordo,
scrapbook,
So you want to be a writer?,
The Moviegoer,
Was mich betrifft
eingestellt von
thecityishardthecityisfair
02:23
2012/08/04
Wie hat er das gemacht? Vater klaubt im
Vorübergehen zwei Früchte vom Strauch. Ein Wildwuchs, nur ein, zwei Triebe,
weshalb er auch nicht abgeerntet wird. Anders als die Apfelbäume, eng stehend,
von niedrigem Wuchs, ganz getrimmt auf Ertrag, die nun bereits übervoll im
hinteren Teil des Gartens hängen. Die Äste drohend jederzeit zu bersten.
Schwarze Beeren, roter Saft. Ich blinzele durch die Sonne und versuche, mir
dieses Bild einzuprägen, bevor ich den Stuhl wieder aus der Schneise des hellen
Lichts ziehe. Ich habe keine Ahnung, wie er das geschafft hat. So alt zu
werden. Und nicht den Verstand zu verlieren. Den Trick muss er mir noch
verraten, denke ich, bevor ich mich wieder dem Buch zuwende, für das ich mir
heute Zeit genommen habe. Zeit für mich. Für fachfremde Literatur. Für ein
verbranntes Gesicht in nur fünf Minuten von ein bisschen direkter
Sonneneinstrahlung. Ist es wert. Denn plötzlich lerne ich ein neues Wort aus
einer da aufgezeichneten Kindheit, das ähnlich klingt wie der Heimat- und
Vaterlandskult, der mir so fremd geblieben ist, und das mir aber doch in ein
unbehaustes Leben wie das meine zu passen scheint: Lippen formen ein Wort. Geborgenheit.
Ja, das will ich auch. Das ist ein gutes Wort. Hingegen nicht, will ich dieses
Wochenende mit auf den Friedhof. Meiner Mutter ein weiteres Mal dabei zusehen,
wie sie D.s und Omas Gräber ein weiteres Mal beackert. Ich mag es sonst dort,
obwohl ich meist nur sinnlos und im Weg stehe, ohne wirkliche Rührung oder Begeisterung.
Und ihr bloß dabei zusehe, wie sie das Kommando hat und sich in dieses nicht
minder absurde Tun vertieft. Sie ist dann zumindest mehr bei sich, man kann ein
paar nicht beiläufige Worte wechseln und weiß zumindest ein Mal, dass sie sich jetzt
nicht schon wieder nervös fragt, was wieder zu tun sei, was sie noch machen
muss, was sie dann wieder unüberlegt nur gut gemeint hat oder ob sie bereits
ihrer Form der Entspannung, einer Zigarette begleitet von stetem, stummem
Grübeln, bereits wieder hinterher hechelt. Letztes Wochenende habe ich mir bei
dieser Gelegenheit G.s Grab angesehen, den Stein, den seine noch junge Witwe für
ihn hat aufstellen lassen. D. h., falls man uns noch »jung« nennen kann und obwohl sie, glaube
ich mich zu erinnern, ein, zwei Jahre älter als er war. Der Stein war kitschig.
Aber das wusste ich schon aus Beschreibungen. Glatter schwarzer Granit und drei
Fotos, auf denen ich ihn auch noch erkenne: Beim Sport, im Verein, und unten, das
Abwegigste und Makaberste in einer Motorradmontur. Andererseits: Ich habe ja
auch keine Ahnung, wie man mit solch einem Scheißdreck fertig werden soll,
betrachte ich doch an jedem zweiten Wochenende das Grab eines Mädchens, das
meine Schwester gewesen sein soll, ohne etwas Sinnvolles tun zu können.
2012/08/06
Am Wochenende ist hier
im Ort ein Laster Getreide umgekippt. Eigentlich eine fiktive
Nonsens-Schlagzeile, die mein Vater immer so verwendet, wenn im Lokalteil der
Zeitung ein banaler Vorgang zu einer Meldung gereicht hat, die dann die Seite eben
füllt. Dieses Mal ist es aber wirklich passiert. Als ich zum Bahnhof gehe, kann
ich die Havariestelle in der Kurve noch kurz in Augenschein nehmen. Gleich
hinter Brücke muss der Transporter die Schutzgeländer am Fußwegrand mitgenommen
haben, als es ihn zu weit aus der Kurve trieb und er schließlich kippte. Im kleinen
Flussbett sind noch die Reste der Ladung zu sehen, dass diese aufgenommen hat
wie ein Trichter. Offenbar hat es nicht gelohnt, auch diese zu sichern: So
sauber scheint das Wasser wohl dann doch noch nicht wieder. Dafür kann ich mich
an dem absurden Anblick kurz erfreuen. Fast an jedem Korn, das ich in der Kürze
der Zeit mustern kann, empfinde ich Genugtuung. Seit ich das Antidepressivum
abgesetzt habe, fällt es mir wieder merklich leichter, mich zu fokussieren, ich
habe wieder ein Auge für Details. Wie für die Holunderbeeren, die in einem
Garten am Anfang meines Wegs noch nicht ausgereift sind, während die des
Strauchs in einem verwilderten Schrebergarten gleich gegenüber der Bahnsteige
schon in einem sattem Schwarz glänzen werden. Es ist ein bisschen wieder so,
wie als ich meine erste Brille bekam. Und wie mit jeder mit angepasster
Sehschärfe danach.
2012/08/07
Ich weiß noch nicht,
ob ich es gut finde, jetzt wieder zu träumen. Oder mich an diese Träume zu
erinnern. Aber der war verstörend. Obwohl kein Kind mehr, werde ich in eine
neue Klasse eingeführt, an der dann wieder der ganze Rest des langen Lebens
hängen soll. Und Mutter ist auch wieder da, obwohl sie doch schon lange nicht
mehr als Sekretärin arbeitet, spricht mir gut zu, hat aber vor allem nur wieder
im Kopf, was die Leute denken könnten. Ich mag mir das gar nicht erst vorstellen.
Auch wenn da viele Gesichter sind, die ich in den vergangenen Jahren
angesammelt haben muss. E bleibt ein Gefühl der Fremde in merkwürdig
Vertrautem. Und es dauert auch nicht lang, und ich verfalle in alte Muster: Ich
habe schier keine Lust, nomen est omen,
wieder der Neue in der Gemeinde zu sein, ich schirme mich ab, mache zu.
2012/08/08
Apropos alte Klasse: Ich
treffe F. an der Netto-Kasse. Er steht in der Schlange direkt hinter mir. Ich
bekomme es erst mit, als ich auch schon an der Reihe bin. Nach dem Bezahlen
warte ich dann, und er scheint auch erfreut zu sein. Wir reden kurz, seine
Firma, er hat sich wirklich gemacht, wie lang mein Studium noch dauert, wann
ich dann den P-Schein mache und für ihn fahr‘. Selten gelacht. Sehr lange nicht
mehr mit ihm gelacht. Er lädt mich noch auf ein Bier ein, und ich nehme mir
vor, dies auch in näherer Zukunft wahrzunehmen. Auch, weil er vermutlich zu den
wenigen Menschen gehört, bei denen ich weit weniger Befangenheit verspüre, rede
ich mit ihnen. Auch nach so langer Zeit. Ich war der, der ihn damals aus dem
Sekretariat, mit meiner Mutter, mit in die fünfte Klasse geschleppt hat. Die
erste auf dem Weg zum Abitur nach der Wende.
2012/08/09
Kino mit S. Das
Aufregendste am ganzen Film war dann eigentlich unser Telefonat, als wir uns am
Mittwoch für diesen Tag verabredet haben. Plötzlich klang es, als hätte sich eine
Untiefe aufgetan, und habe ihn unversehens eingesogen, tief unter Wasser. Aber
eigentlich höre ich ihn nur vom Fahrrad fallen, als eine Stoßstange seinen Lauf
unsanft und abrupt stoppt. Als er sich am darauffolgenden Tag verspätet, ist
schon entschieden, dass wir nun doch nicht zusammen kochen, weil wir noch die
Karten besorgen müssen und ein Dönerstand da direkt nebenan ist. Ich beobachte amüsiert,
wie er mit dem Betreiber flachst. Und etwas erschüttert als sich ein Kind nur
zwei Stück Fladenbrot mit Sauce für ein paar Cent holt. Ich hoffe, das war
jetzt nicht das Abendbrot. Aber ich habe heute ja auch noch nichts gegessen. Die
beiden, S. und der Betreiber, kennen sich näher, da S.s alte Wohnung um die
Ecke liegt. Daher bekommt er auch eine extra Portion Sauce auf seine schawerma, ein Stück gefülltes dünnes Fladenbrot,
die er sich nicht gewünscht hat, aber bekommt, weil er so frech war, sie für gleich
und unterwegs zu bestellen. Und es sich nicht nehmen lässt, noch im Laden
abzubeißen. Später erklärt er mir, dass dieses dünne Brot nicht ganz so mächtig
sei wie das übliche beim Döner, und: er war schon die halbe Woche aus zum Essen
und hat seine Kenntnisse die Fastenregeln während des Ramadans betreffend
merklich in solchen Gesprächen erweitert. Kleiner sadistischer Mistkerl. Ich
habe noch immer keinen richtigen Hunger, neben den Getränken für später kaufe
ich noch zwei Laugenbrezeln, rühre sie aber im Saal dann nicht an. Davor haben
wir aber noch etwas Zeit: neben einer Instruktion in ein wirklich faszinierendes
Computerspiel, wo man, wenn ich es recht verstanden habe, die meiste Zeit nur
rumsitzt im virtuellen Gelände und dieses beobachtet, um zu überleben, sehen
wir uns noch das 200-Meter-Finale der Männer an. Bolt, zum zweiten, diesmal
macht er gar Liegestütze. Danach beweist 3D-Brillen-Kino wieder, dass es aus
einem schlechten Film keinen besseren zu machen vermag, und Ridley Scott
demontiert sich selbst. Prometheus
ist eine blutleere Pilgerfahrt ins Nichts, und wird wohl zu Recht jetzt nicht
als Prequel zu Alien beworben. Statt
einem Kammerspiel mit wirklichen Protagonisten, die sich gegen eine fremde
Intelligenz erwehren müssen, gibt es ein wüstes, ausuferndes Setting mit einem
wüsten, arg vorhersehbaren Plot und, das ist am enttäuschendsten, Außerirdische,
die trotz CGI-Rechenkraftaufwand einfach nur aussehen wie farblose große
Menschen. Einziger Lichtblick: Michael Fassbender. Aber das will schon was
heißen, wenn die einzige, an sich emotionslose, künstliche Lebensform an Bord
es rausreißen soll. Spätestens beim „Im Jahr des Herren“ im Abspann möchte ich
dann doch vorzeitig gehen.
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